Neue Sonderausstellung im Museum Behnhaus Drägerhaus: Irr- Real. Carl Julius Milde, das Porträt und die Psychiatrie
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Die Ausstellung „Irr-Real. Carl Julius Milde, das Porträt und die Psychiatrie“, die am Sonntag, dem 17.03.2019 im Museum Behnhaus Drägerhaus startet, wurde heute im Rahmen einer Pressekonferenz vorgestellt.
Ein Blick auf die Porträts dieser Ausstellung verdeutlicht gleich: Als guter Beobachter und exzellenter Zeichner hielt Carl Julius Milde zwischen 1829 und 1834 Menschen in ihrer individuellen Eigenart fest. Zugleich zeichnete er ein Bild ihrer Krankheit. Die Dargestellten sind Patienten der Psychiatrie im Hamburger Krankenhaus St. Georg.
Carl Julius Milde (1803–1875) ist in Lübeck kein Unbekannter. Sein passioniertes und lang-jähriges Engagement für die Kultur der Hansestadt wirkt bis heute nach. Milde war erster Konservator der Lübecker Kunst- und Naturaliensammlung und er setzte sich u. a. mit seinem „Lübecker ABC“ für den Erhalt von Baudenkmälern ein. Im Zuge seiner künstlerischen Ausbildung reiste Milde nach Italien. Die dort gezeichneten und aquarellierten Landschaften und Porträts zählen ebenso zu seinem bekannten Œuvre.
Weitgehend unbekannt ist hingegen, dass Milde auch für die Medizin als Künstler tätig war. Seine Patientenporträts entstanden im Kontext der Verwissenschaftlichung der Psychiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie werden in der Ausstellung in Lübeck erstmals in den Fokus gerückt.
Während die Psychiatrie als medizinisch eigenständige Disziplin etabliert wurde, begannen Ärzte, Serien von Patientenporträts durch professionelle, auf Bildnisse spezialisierte Künstler zeichnen zu lassen. Man benötigte Bildmaterial, um psychiatrische Erkrankungen zu unterscheiden und zu klassifizieren. Dabei spielten die Porträts keineswegs eine rein illustrierende Rolle. Sie waren integraler Bestandteil der ärztlichen Diagnose und der wissenschaftlichen Argumentation. Zugleich hielt Milde die individuellen Züge der von ihm Dargestellten fest. Man erkennt Spuren des gelebten Lebens, den verletzbaren, vielleicht auch leidenden Menschen. Zwischen der Individualität der Porträts und dem wissenschaftlichen Anspruch der Zeichnungen liegt der Spannungsbereich dieser Werke.
Forschungsgrundlage der Ausstellung
Die Präsentation von Mildes Patientenporträts erfolgt in dieser Ausstellung und dem begleitenden Katalog erstmals kommentiert und auf Grundlage wissenschaftlicher Forschung. Der Leiter des Museums Behnhaus Drägerhaus, Dr. Alexander Bastek, macht deutlich, warum die Ausstellung so relevant für die Stadt Lübeck ist: „Carl Julius Milde ist eine wichtige Figur in der Kulturgeschichte Lübecks. Ich freue mich, dass wir mit dieser Ausstellung eine unbekannte Facette dieser bedeutenden Künstlerpersönlichkeit aufzeigen und zugleich das Gesamtbild Milde klarer umreißen können.“ An der Universität Göttingen hat Julia Diekmann, Stipendiatin am Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL), im Rahmen ihrer Dissertation „Der wissenschaftliche Blick Carl Julius Milde und seine Porträts ‚geisteskranker‘ Patienten“ die enge Verknüpfung von Kunst und Naturwissenschaft, von Kulturleistung und medizinischer Forschung untersucht.
Der Leitende Direktor der LÜBECKER MUSEEN Prof. Dr. Hans Wißkirchen lobt vor allem die Zusammenarbeit des ZFKL und der Lübecker Museen: „Ich freue mich darüber, dass die Arbeit des Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL) hier erstmals in eine Ausstellung der Lübecker Museen mündet. Die Kuratorin Frau Diekmann war drei Jahre lang Stipendiatin des ZKFL und konnte mit Ihrer Dissertation das Wissen über die Sammlung des Behnhauses erweitern und wir sind froh, dass wir dies nun der Öffentlichkeit präsentieren können.“
Julia Diekmann schrieb auch den Hauptartikel zur maßgeblichen Einordnung und Bewertung von Mildes Patientenporträts im Katalog. Der Einordnung dieses außergewöhnlichen Zeichnungskonvoluts in einen größeren Rahmen gehen auch die weiteren Aufsätze nach:
Mildes Porträts stehen als Kunstwerke im Kontext der Kunstfragen seiner Epoche. Michael Thimann beleuchtet daher in seinem Katalogbeitrag Mildes Zeichnungen im Rahmen der Porträtkunst der Romantik, zwischen Seelenmalerei und einer der Wahrheit verpflichteten nazarenischen Bildkonzeption.
Als Bildnisse, die im Kontext der medizinischen Praxis entstanden, müssen Mildes Patientenporträts auch im Zusammenhang der Psychiatriegeschichte des frühen 19. Jahrhunderts betrachtet werden. Dies leistet Cornelius Borck in seinem Katalogbeitrag, in dem er den „Umgang mit Irrsinnigen“ im Hamburger Krankenhaus im europäischen Vergleich veranschaulicht.
Nicht zuletzt stehen die fünf Jahre, in denen Milde für das Hamburger Allgemeine Krankenhaus St. Georg als Zeichner tätig war, im Zusammenhang einer bewegten Künstlerbiografie. Der Beitrag von Henry A. Smith kennzeichnet diese Jahre, mit einem umfänglichen Blick auf Mildes Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, als seine Wendejahre.
Der Katalog zur Ausstellung (192 Seiten, 127 Abbildungen) ist im Michael Imhof Verlag erschienen und für 19,90 EUR im Museumsshop erhältlich. Die großzügige Förderung der Ernst von Siemens Kunststiftung ermöglichte dessen Erarbeitung und den Druck. Dazu bemerkt der Generalsekretär Dr. Martin Hoernes: „Die Initiative, ein bislang weitgehend unbekanntes und unerforschtes Konvolut der eigenen Sammlung in den Blick zu nehmen und dabei die Verbindungen von Kunst und Wissenschaft im 19. Jahrhundert zu untersuchen, unterstützen wir sehr gern durch die Finanzierung des Ausstellungskataloges.“
Vergleichswerke
Die Patientenporträts stellen nicht die alleinige künstlerische Auseinandersetzung des Malers mit dem „Anderen“, „Exotischen“ dar. In den Jahren 1826 und 1830 bis 1832 unternahm der Künstler Reisen nach Italien, auf denen er auch die dortige Bevölkerung zeichnete. Die fremdartige südländische Welt erscheint hier in Bildnissen vor allem italienischer „Schönheiten“, deren melancholischer Typus sie in die Nähe der Patientenporträts rückt.
Ein weiterer vergleichender Blick der Ausstellung gilt Patientenporträts anderer medizinischer Publikationen. Der englische Psychiater Alexander Morison (1779–1866) verwendete die Gegenüberstellung von erkrankten und genesenen Patienten in seiner 1840 erschienenen Publikation The Physognomy of mental diseases. Morisons Ziel war die Erstellung eines Kataloges von individuellen Formen visuell wahrnehmbarer Krankheitszeichen im Antlitz des Patienten. Zwar weisen die Porträts, die der Psychiater in seinem Buch verwendet, durchaus Parallelen zu Mildes Porträtzeichnungen auf. Doch gehen Mildes Bildnisse über Morisons Verständnis hinaus. Milde folgte mit seinen Krankenbildnissen einer romantischen Porträtpraxis und war damit der Forderung nach Wahrheit im Porträt verpflichtet.
1839 erschien mit Karl Heinrich Baumgärtners (1798–1886) Kranken-Physiognomik die erste deutschsprachige Publikation, die Porträts von Psychiatriepatienten enthielt. Die von Carl Sandhaas aquarellierten Bleistift- und Federzeichnungen wurden für die Publikation lithographiert und mit Bezeichnungen der jeweils diagnostizierten Krankheit versehen. Beide Publikationen werden in der Ausstellung präsentiert.
Neben den Porträts von Patienten der Psychiatrie schuf Milde im Krankenhaus St. Georg auch Zeichnungen für die vom Wundarzt Johann Georg Fricke 1828 erstmals herausgegebenen Annalen der chirurgischen Abtheilung des allgemeinen Krankenhauses in Hamburg. Mildes Illustrationen stehen vollständig in der Tradition naturwissenschaftlicher Atlanten, welche die Objekte des Wissens in ausgeprägter Nahansicht und ausgesuchter und pointierender Farbigkeit präsentieren. Auch sie sind in der Ausstellung zu sehen.
Gesamtbild Milde
Die wiederentdeckten Porträtzeichnungen Mildes fügen dem Gesamtbild dieses vielseitigen Künstlers nicht bloß einen weiteren Aspekt hinzu. Dieses Konvolut von akribisch gezeichneten Porträts, die auf das Individuelle und zugleich Typische der Dargestellten und ihrer Erkrankungen abzielen, ermöglicht etwas anderes: Mildes Patientenporträts führen das Bild eines in seinen vielfältigen Talenten, Interessen und Beschäftigungen nicht untypischen „Künstlerforschers“ des 19. Jahrhunderts klarer vor Augen.
Begleitprogramm
Eröffnung I So I 17.3.I 11:30 Uhr
Museum Behnhaus Drägerhaus, Königstr. 9-11 I 7 / 3,50 EUR
Öffentliche Führungen jeden Sonntag I 11:30 Uhr I 4 EUR zzgl. Eintritt
Abendführungen
DO I 21.3. I 18.4. I 16.5. I 20.6. I 17-18 Uhr I 4 EUR zzgl. Eintritt
Mittagsführungen
MI I 27.3. I 24.4. I 22.5. I 26.6. I 12-13 Uhr I 4 EUR zzgl. Eintritt
Vortrag: Wahrhaftigkeit im Blick
DO I 4.4. I 18 Uhr I 7 / 3,50 EUR
mit Julia Diekmann, Kunsthistorikerin
in Zusammenarbeit mit dem Verein für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde
Internationaler Museumstag
Sonderführung
SO I 19.5. I 11:30-12:30 Uhr I 4 EUR
Buchung individueller Führungen unter Tel. 0451 122 4148 oder behnhaus@luebeck.de
Weitere Infos und Termine unter www.museum-behnhaus-draegerhaus.de
Psychiatrie gestern und heute
Mittwoch, 5. Juni 2019, 19 Uhr
mit folgenden Impulsreferaten
Der historische Blick: Was bedeutete es psychisch krank zu sein - und was war überhaupt ein Krankenhaus?
Prof. Dr. Cornelius Borck
Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung
Der medizinische Blick: Was versteht man heute unter psychischen Erkrankungen?
Dr. Philipp Klein, UKSH, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Der gesellschaftliche Blick: Behandeln, Begleiten, Betreuen – der sozialpsychiatrische Ansatz bei der BRÜCKE
Frank Nüsse, Geschäftsführer, Die Brücke – Gemeinnützige therapeutische Einrichtungen
Diskussion moderiert von
Dr. Peter Delius, Arzt für Psychiatrie, psychosomatische Medizin und Psychotherapie